„Die Wirklichkeit kann man durch den Haupteingang betreten, aber auch durch ein Fensterchen in sie hineinschlüpfen.“
Gianni Rodari in Grammatik der Phatasie
Der Wanderer stapfte müde durch den Wald, der immer dunkler wurde. Der Weg wurde steiniger, die Bäume standen immer dichter, so dass jeder Schritt genau gesetzt werden musste um nicht zu stolpern. Die Information, die er teuer im Dorf an der Klippe erstanden hatte, besagte: „Gehe in den schwarzen Wald und laufe am Abend, wenn die Sonne die Baumkronen berührt von der Sonne weg. Wenn es dein Schicksal ist, triffst du dort die Zauberin, die sich auf den Zauber versteht, einen Geschichtenerzähler aus dir zu machen.“ Er hatte mehrere Leben hinter sich gebracht, die ihn dazu geführt hatten, loszuziehen, Geschichten zu sammeln und letztendlich den Funken in ihm einpflanzten selbst ein Geschichtenerzähler werden zu wollen. Diese Idee glomm manchmal fast ausgelöscht, mal loderte sie wieder auf und brannte im Herzen des Wanderers als innigster Wunsch. Nun stapfte er in immer dunkler werdendem Geäst und fragte sich, was passieren würde, wenn sein Schicksal nicht vorsah, dass er die Zauberin traf. Als die Sonne fast verschwunden war und der Himmel das schönste samtig-tiefe Blau annahm, kurz bevor die Sterne durchstachen, trat er auf eine Waldlichtung. Am Rand der Waldlichtung stand eine kleine einsame Holzhütte. Durchs kleine Fenster sah man die Feuerstelle, über der ein Kessel hing. Die Tür ging auf, eine von Jahren gebeugte Frau kam heraus.
»Hallo Wanderer, ich habe schon auf dich gewartet. Das Feuer brennt, im Kessel köchelt es, komm herein.«
Zu müde um an Arglist zu denken, trat der Wanderer mit schweren Schritten herein. Die Hütte war nur vom Feuer der Feuerstelle beleuchtet. Die alte Frau zündete eine Kerze an und stellte sie auf den Tisch.
»Hallo, gute Frau. Ich suche eine Zauberin, die sich auf den Zauber versteht Geschichtenerzähler zu erschaffen.«
»Ich vermute, so werde ich im Dorf genannt. Sei willkommen und setze dich.«
Erleichtert legte der Wanderer seinen Beutel ab und ließ sich auf die Bank am Tisch fallen. Die alte Frau setzte sich auf den einzigen Stuhl gegenüber.
»Ich war lange unterwegs und habe gehört, dass du einen Geschichtenerzähler aus mir machen kannst«, der Wanderer lehnte sich an die Wand und war froh, den neugierigen Blicken der Frau in der Dunkelheit der Hütte nicht ganz schutzlos ausgeliefert zu sein.
»So-so, du willst also Geschichtenerzähler werden. Es gibt vermutlich verschiedene Arten von Geschichtenerzählern. Bevor du dich für meinen Zauber entscheidest musst du die Natur der Geschichten, die mein Zauber umfasst kennen.« Die Frau stand auf, kramte aus einer Kiste einige Wurzeln heraus, die sie klein zu scheiden begann.
»Wenn ich dich verzaubere, dann wird aus einigen Dingen, Menschen, Gesprächen ein Gedanke auftauchen, der so seltsam ist, dass er nicht von dir kommen kann. Der Impuls geht von dem aus, was in unserer Welt im Hier und Jetzt passiert, aber es öffnet ein kleines Fenster in eine andere Welt – Phantasia, so hat ein großer Geschichtenerzähler die Welt, die nicht die Seine war, genannt. Das was man dort sieht, kann eine Spiegelung des Hier und Jetzt sein mit ungewöhnlichen Wesen oder zu seltsamen Zeiten. Es kann aber auch etwas ganz anderes sein. Du siehst einen kaputten Stein, er ist Spiegelung eines Wegsteins in Phantasia und eine Geschichte, die diesen Stein vielleicht nur streift, eröffnet sich dir«, die alte Frau warf die Stückchen der Wurzel in den Kessel und rührte um.
»Eröffnet? Der Geschichtenerzähler denkt sie nicht aus?« Der Wanderer beugte sich nach vorn. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
»Nein. Sie eröffnet sich, du siehst sie vor dir, kennst die Zusammenhänge, sie ist da – in Phantasia war sie schon immer da, du entdeckst sie bloß.« Die Alte sah mit ihren langen offenen Haaren, in die vereinzelt feine Zöpfe geflochten waren, wie eine Hexe aus.
»Und was ist der Haken?«
»Haken?« die Hexe rührte wieder im Kessel, erst jetzt merkte der Wanderer, dass es bezaubernd roch.
»Bei jedem Zauber gibt es so eine Art versteckte Klausel, etwas das dazu gehört, was man aber nicht von Anfang an richtig beachtet. Es entpuppt sich später als wichtig, da die Wirkung des Zaubers durch die Klausel eingeschränkt oder verändert wird.«
Die Hexe lächelte anerkennend.
»Wie viele Geschichten kennst du?« sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück und kurz schienen ihre Augen zu leuchten, so genau schaute sie den Wanderer an.
»Ich habe viele Geschichtenerzähler gehört, ich habe lesen und schreiben gelernt. Einige Geschichten habe ich gelesen«, der Wanderer richtete sich etwas auf. Die ganzen Entbehrungen der Reise, die Leute, die er traf schüttelten nur den Kopf, wenn sie hörten, wieso er unterwegs war. Die Alte schien ihn zu verstehen.
»Es gibt zwei Sachen, die du wissen solltest: Die Fenster werden zunächst selten erscheinen und wenn du eins erblickst, solltest du dir die Zeit nehmen da reinzuschauen und die ganze Geschichte zu sehen. Wenn du das nicht gleich tust, schließt sich das Fenster und du kommst nicht mehr an diese Geschichte.«
»Das heißt ich muss in dem Moment die Geschichte aufschreiben, wenn ich so ein ‚Fenster‘ erblicke?«
»Aufschreiben oder dir die Zeit nehmen, die Geschichte bis zum Ende anzuschauen.«
»Das hört sich nicht schwer an.«
»Das tut es nie«, beim Lächeln entblößte die Hexe ihre gelben Zähne, die erstaunlich vollzählig in geraden Reihen standen, was so gar nicht zu ihrem zerknitterten Gesicht passte. »Aber das täuscht. Es kann dich nachts wachrütteln, nach einem langen Tag, wenn du den Schlaf bitter nötig hast, oder wenn ein Tag voller Herausforderungen vor dir steht und du die Ruhe dringend brauchst. Du wirst dich entscheiden müssen. Je öfter du dich für Phantasia entscheidest, umso häufiger erscheinen die Fenster«, die Hexe stand wieder auf, nahm einige trockene Kräuter von der Leine über dem Fenster und krümelte die Blüten in den köchelnden Kessel, bevor sie fortsetzte:
»Das andere ist: nur weil du Einblick in Phantasia hast und die Geschichte vor dir liegt, heißt es noch lange nicht, dass du sie so erzählen kannst, dass die anderen die Geschichte verstehen oder sie überhaupt hören wollen. Die Kunst des Erzählens wirst du erlernen und verfeinern müssen, das wird dir niemand abnehmen. Die Geschichten, die du bis jetzt gehört hast, sind ein guter Anfang. Du hast ein Gespür entwickelt, welche Worte die richtigen sind. Höre genau den anderen Geschichtenerzählern zu und lerne daraus. Vor allem aber, lerne dadurch, dass du selber erzählst. Lasse die Geschichten leben, versuche es auf verschiedene Weisen zu erzählen, bis das was du erzählen willst in richtige Worte gekleidet erscheint.«
»Wie merke ich, dass es die richtigen Worte sind?« Der Wanderer überhörte das Knurren seines Magens. Tief in seinem Beutel lag noch ein Stück Dörrfleisch, das konnte er später noch herausholen.
»Die richtigen Worte lassen die Geschichte wie eine Melodie klingen. Du wirst es merken. Das ist ein Teil des Zaubers«, die Alte blieb ziemlich vage. Hoffentlich funktionierte das so, wie sie versprach.
»Das klingt zwar anstrengend, aber scheint doch nicht gefährlich. War es das?« Der Wanderer holte aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel einen Taubenei großen perfekten Mondstein, im Halbdunkel der Hütte schimmerte die polierte Oberfläche wie der Mond selbst im Himmel. Er streckte die offene Hand mit dem Stein der alten Frau entgegen. Ihre Augen leuchteten auf, zögernd griff sie danach. Der Wanderer wusste, ein Geschenk wird von einer Hexe mit einem Gegengeschenk entlohnt. Nur so konnte er etwas über die echte Gefahr des Zaubers vorher erfahren.
»Du wirst dich schnell entscheiden müssen, ob du auf dem Pfad des Geschichtenerzählers wandeln möchtest. Es wird einen Zeitpunkt geben, an dem es kein zurück mehr gibt. Du wirst keine Ruhe finden, wenn die Geschichten nicht von dir erzählt werden.« Die Alte nahm den Mondstein vorsichtig zwischen die Finger und schaute durch ihn, als wäre in der Dunkelheit der Hütte etwas zu sehen, streichelte den Stein sanft und verbarg ihn unter ihrer Schürze.
»Wann ist dieser Zeitpunkt?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Es ist bei jedem anders. Das scheint an der Anzahl der Geschichten bemessen zu sein, die du in richtige Worte kleidest. Manche erzählen drei Geschichten, und schon ist es um sie geschehen. Andere mühen sich jahrelang mit halbgaren Erzählungen ab, ohne dass dieser Zeitpunkt eintrifft. Ich habe diese Geschichtenerzähler gehört, was sie erzählen ist fade und bedeutungslos. Entweder finden sie nicht die richtigen Worte oder sie versuchen den Verlauf der Geschichten zu verändern und die Fenster, die sich ihnen eröffnen werden immer kleiner, sie sehen immer kleinere Teile der Geschichten – der Zauber verblasst. Phantasia scheint sich auszusuchen, wem es den Einblick erlaubt«, die Alte probierte mit dem großen hölzernen Löffel den Inhalt des Kessels, holte eine Schale aus dem knarrenden Buffet, schenkte den wohlriechenden Inhalt ein und reichte die Schale dem Wanderer.
Dieser schrak zurück.
»Ist es eine Droge? Muss ich es immer essen, damit sich die Fenster öffnen?«
»Nein«, sagte die Hexe das Schälchen auf den Tisch stellend, ihre Augen funkelten, als wäre ihr ein Scherz gelungen und holte ein zweites Schälchen aus dem Buffet heraus, das sie ebenfalls füllte. »Das ist ein Eintopf, du wirst doch hungrig sein. Iss’ in Ruhe, schlafe eine Nacht und wenn du es morgen immer noch möchtest, bekommst du den Zauber.«
Der Wanderer nahm den Löffel, den die Alte gereicht hatte und löffelte schnell das Schälchen leer. Die Hexe lächelte, als sie den Nachschlag reichte:
»Im Hier und Jetzt ist es ungefährlicher als Wanderer zu reisen. In Phantasia kannst du so eintauchen wie du willst, am einfachsten ist der Einstieg jedoch, wenn du als die, die du bist, erscheinst.«
Die Wanderin hustete, das Essen kam ihr in den falschen Hals.
»Seit wann…«
»Seit du hier eingetreten bist. War das nicht ein Teil der Probe meiner Fähigkeiten?«
Die Wanderin senkte den Blick in die Schüssel und aß diesmal etwas langsamer und genussvoller bis zum letzten Tropfen das Geschirr leer.
Noch im Dunkeln wachte die Wanderin auf. Nach der langen Suche konnte sie nicht länger warten. Die Hexe war auch schon wach, zündete eine Kerze an und kramte in ihrer großen Truhe, legte etwas kleines aufs Regal in der dunklen Ecke, bevor sie ein Stück trockenes Brot und einen nach Waldwiese duftenden Tee auf den Tisch stellte. Die Wanderin teilte ihr Dörrfleisch, nahm den Tonbecher mit Tee in beide Hände und roch daran:
»Verzaubere mich, die Fenster nach Phantasia zu sehen. Ich möchte Geschichtenerzähler werden.«
Die Hexe gab ihr wortlos den Gegenstand vom Regal. Die Wanderin betrachtete es: ein kleiner, dunkler, glatter Stein, mit einer Macke. An einer Stelle war ein Stückchen herausgeschlagen. Der Stein lag sehr angenehm in ihrer Hand:
»Was mache ich damit?«
»Allein dein Wille und das Wissen, wie der Weg der Geschichten aus Phantasia ist, gibt dir die Macht die Fenster zu erkennen. Du hast mir gestern zugehört und alles aufgenommen. Wenn du mich verlässt, wird dein Glaube schwinden, du wirst dir nicht sicher sein, ob es Phantasia tatsächlich gibt. Schaue dir dann den Stein an, halte ihn in der Hand, alles andere ergibt sich von selbst.«
›Seltsamer Zauber‹, dachte die Wanderin. Ließ aber den Stein in die Gürteltasche gleiten.
»Was schulde ich dir dafür, Zauberin?«
»Schenke der Welt Einblicke ins Phantasia. Die Welt wartet auf Geschichten. Als Lohn möchte ich jedes Jahr eine deiner Geschichten, die beste direkt von dir bekommen. In genau einem Jahr wird mein Rabe bei dir erscheinen und sie abholen.«
Die Wanderin bedankte sich und verließ die Hütte. Die Sonne war kurz davor aufzugehen. Der Weg aus der Hütte war steinig und mit Wurzeln der großen Bäume durchzogen. Nach einer Weile machte die Wanderin eine Pause und nickte an einen Baum gelehnt ein. Als sie wach wurde, schien die Sonne durch die Baumkronen. Sie war sich gar nicht sicher, wie lange sie geschlafen hatte und ob sie die Zauberin tatsächlich gesehen oder nur von ihr geträumt hatte.
Sie erinnerte sich an den Stein und griff in den Lederbeutel. Sie ertastete den Stein sofort, holte ihn heraus und betrachtete ihn im Sonnenschein. Der Stein war vom schönsten samtig-tiefen Blau. So was hatte sie noch nie gesehen. Graue, schwarze, weiße, ja sogar grüne und rote Steine hatte sie auf ihren Wanderschaften zu Gesicht bekommen, aber noch nie einen Stein in diesem tiefen Blau der Abenddämmerung. ›Sieht aus wie aus einer anderen Welt. Die Hexe hat ihn bestimmt blau angemalt‹, dachte die Wanderin den Stein in der Hand drehend. Sie sah sich die kaputte Stelle an. Der Stein war im Inneren genauso blau wie Außen. Wieso hatte sie sich das Fenster wie in einem Haus vorgestellt. Auch eine kaputte Stelle oder ein Riss konnte ein Fenster in die andere Welt sein, durch die ein Geschichtenerzähler blicken kann. ›In allem gibt es einen Riss, so kommt das Licht hinein‹, hörte sie die schönste samtig-tiefe männliche Stimme in ihrem Kopf. Sie verstand das nicht, aber es war ihr klar, dass dies das erste Fenster ins Phantasia war.
August 2022