Die Freiheit zu reisen

Wir sind aus dem Hotel ausgebrochen. Nach einem Tag des Befolgens der vorgegebenen Zeitpläne, haben wir uns an diese eine zeitliche Vorgabe nicht mehr halten wollen. Vielleicht alles der Reihe nach.

Nach jahrelangem freien Reisen, habe ich für die kommenden fünf Tage den einfachen Weg genommen und eine Pauschalreise gebucht. Flug und Hotel inklusive Transfer aus einer Hand. Kein mühevolles zusammenpuzzeln verschiedener Reisebestandteile, das können doch Reisebüros wunderbar und machen es tausendfach – so die Überlegung – ok, die Ausrede – bei Übergabe der Arbeit und Verantwortung an eine Erholungsindustrie.

Vielleicht noch ein Schritt zurück. Aufgewachsen als Deutsche in der Sowjetunion, war das Reisen eingeschränkt. Bestimmte Grenzgebiete des Landes durften wir nicht bereisen und ans Ausland war sowieso nicht zu denken. Der Beweis der Überlegenheit des sozialistischen Systems durfte ja nicht durch „Abstimmung mit den Füßen“ untergraben werden. Auch im sozialistischen System war reisen eine Sache des Geldbeutels, meine Mutter hat dafür gesorgt, dass wir jeden Sommer für ein-zwei Wochen die Umgebung wechselten. So waren wir mal in den hohen Bergen, am Stausee oder am salzigen Binnensee. Für uns Stadtkinder war es eine ganz wichtige und tolle Erfahrung: das beherrschbare Stadtleben hinter uns zu lassen und uns der Natur und den Elementen zu nähern. Als Kinder war es ganz normal, dass am Ziel angekommen wir von Haus zu Haus geklingelt haben, um eine Unterkunft für den Aufenthalt zu finden. Etwas später war es etwas geregelter, da gab es eine vom Unternehmen meiner Mutter oder ihrer Schwester – wir reisten oft mit meiner Tante und ihren beiden Kindern – unterhaltene Siedlung von abgestellten Eisenbahnwaggons, von denen einer für uns sechst gebucht wurde. Die feststehenden Wohnwägen waren nicht viel anders als das, was man sich heute darunter vorstellt mit dem Unterschied – die Wägen waren umgebaute Eisenbahnwaggons. Es gab einen Sanitärbereich mit Waschbecken, Gemeinschaftsdusche und Plumsklo in dieser Wohnwagensiedlung. Es war herrlich. Da gab es all das, was wir aus der Stadt nicht kannten: viel Zeit in der Natur, das nervige Wasser holen, damit die Mütter rechtzeitig ein Essen für uns zauberten, Holz sammeln um abends Feuer zu machen, Taschenlampenpflicht, um nach dem einbrechen der ganz besonders tiefen Dunkelheit, die es in einer Stadt so nicht gibt, noch den Weg zu den Toiletten und zu den Waschbecken zu finden. Wohin wir im Gänsemarsch zitternd vor Kälte und (wohl tatsächlich) lauernden Gefahren immer alle zusammen gingen. Einkuscheln nachts am besten in zusammengeschobenen Betten in von innen verrammelten Wohnwägen, da zwei Frauen mit vier Kindern nicht nur den Bären – wie die Mütter uns das damals erklärten – trotzen mussten. Es war eine wirklich schöne Zeit, an die ich gern zurück denke. Den vollen Maß der Abenteuerlichkeit der Reisen habe ich begriffen, als ich selbst Mutter geworden bin.

Nach Deutschland ausgewandert, war die Freiheit da – reisen wohin man will. Mein Vater war auch hier was das Reisen angeht schwerfällig. Wir reisten auch hier meist zu dritt: meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir waren von der Möglichkeit fasziniert andere Länder zu bereisen. Organisierte Busreisen nach Paris und Budapest waren einfach klasse. Die Freiheit die sie boten überwiegte bei weitem die Einschränkungen, die für einen ganzen Bus organisierte Reise nun mal mit sich brachte.

Dann gab es eine Zeit der Pauschalreisen im Sommer. Auch das war seinerzeit eine Freiheit gewesen. Für gar nicht so viel Geld, die ich als Schülerin in den Ferien verdienen konnte, waren reisen auf Inseln und ans Meer möglich.

Dann kam das Studium und damit die Zeit, in der ich mir nicht mal Pauschalreisen leisten konnte. Aber auch das hielt mich nicht vom Reisen ab. Irgendwie fand sich eine Clique zusammen, mit zwei Autos sind wir zu sechst nach Italien gefahren, mit Zelten, Schlafsäcken und einem Kofferraum voll Raviolidosen. Es war nicht viel anders, als in der Kindheit. Wir hatten die kostenlosen Karten vom ADAC mit markierten Zeltplätzen und sind einfach darauf los gefahren zu einer Stadt, die wir vorher festgelegt hatten. Am Zielort angekommen haben wir nach einem Zeltplatz gesucht, der Platz für drei Zelte nebeneinander bot. Diesmal waren nicht die Mütter, sondern wir selbst für das Kochen an den Gaskochern zuständig. Die Raviolidosen waren da sehr praktisch. In diesen Urlauben habe ich genug Raviolis für mein ganzes Leben gegessen. Ich muss gestehen, ich tue mich seitdem schwer Raviolis auch in feinen Restaurants zu bestellen, die mit den Dosenraviolis höchsten ihren Namen gemein haben. Aber das war nichts im Vergleich zur Freiheit unterwegs zu sein, am Strand Feuer zu machen bis in die Nacht zu sitzen, zu reden, Musik zu hören. Ich hatte den coolsten Freund – den mit der Gitarre, die auch im ganz vollen Auto Platz gefunden hat. Die Reiseclique und die Reiseziele wechselten im Verlauf des Studiums, das Zweierzelt blieb immer dasselbe.

Als der coole Freund mein Ehemann wurde und wir – nun selbst Eltern – den Urlaub brauchten um einfach all die Verantwortung abzugeben und uns einfach zurück zu lehnen und andere organisieren und kochen zu lassen, waren auch wir einige Jahren vor allem am Mittelmeer mit Pauschalreisen unterwegs. Die An- und Abreise, Unterbringung, Mahlzeiten waren geregelt und verlässlich da. Unsere Freiheit haben wir darin gehabt, direkt nach der Ankunft ins Meer zu springen – unabhängig von der Tages- oder auch Nachtzeit, ein Auto zu mieten und die Gegend zu erforschen, Sehenswürdigkeiten zu bereisen und dafür halt das bereits bezahlte Essen und die Hotelinfrastruktur samt Pool nicht zu nutzen, sondern die Dinge machen, auf die wir Lust hatten.

Es kam auch mit Kindern die Zeit, in der das tägliche Kochen abzugeben und dafür von einer Großküche bekocht zu werden, zu so häufigen Essen auswärts führte, dass eine Hotelinfrastruktur keinen Sinn mehr machte. Wenn wir ans Meer reisten, war der Strand das Ziel, die tolle Poollandschaft höchstens mal für eins-zwei Vormittage, an denen Kinder vor uns munter waren und den Bewegungsdrang ausleben wollten, und wir den Tag etwas langsamer starteten. Wir haben uns an das Zelten in der Jugend erinnert, das Zweierzelt aus dem Keller geholt, ein weiteres Zelt gekauft und sind mit einem Grill und Gaskocher im Kofferraum nach Italien an die Adria gestartet. Ich muss zugeben, das Schlafen in Schlafsäcken und Leben aus dem Koffer oder Kofferraum, war mir dann doch zu puristisch. Etwas mehr Bequemlichkeit sollte es sein.

Seitdem hatten wir einiges ausprobiert auf der Suche nach der passenden Urlaubsform. Der coole Typ mit Gitarre hatte sich nun einen Mountainbike angeschafft und hatte damit die Alpen überquert. Die Familie war mit einem geliehenen Wohnwagen dabei, morgens hatten wir uns verabschiedet und abends im verabredeten Ort wieder getroffen. Da hatten wir zum ersten Mal unser jüngstes Familienmitglied an Bord und es war toll – die kommende Übernachtung erst am Vorabend zu planen, unterwegs einfach ungeplant stehen zu bleiben, weil die Bergwiese gerade so toll aussah und wir die Beine vertreten wollten.

Natürlich habe ich nach dem Vorbild meiner Mutter mit Kindern Städtereise gemacht, aber in Europa angekommen mit etwas Sprachkenntnis und Reiseerfahrung, mussten es keine Pauschalreisen sein. Anfahrt und Abfahrt planen, Hotel suchen, zumindest den ersten Weg zum Hotel planen und einen Überblick über Sehenswürdigkeiten, die wir erleben wollten. Bereits unterwegs oder erst vor Ort machen wir genauere Pläne machen, so dass die Plätze und Orte die wir erleben wollen in sinnvolle Tagestouren zusammengefasst sind. Wir sind auf solchen Reisen unsere eigene Reiseführer, mit allen Pflichten und Freiheiten, die dazu gehören.

Nach zwei Jahren mit Corona, in der das Reisen wieder schwierig war, hatten wir so viele Kurzurlaube in diesem Jahr zu verschiedensten Orten in Europa geplant, dass einer davon nach vielen Jahren freien Reisens aus Bequemlichkeit bei der Planung ein Pauschalurlaub wurde.

Das Flugzeug landete planmäßig gegen 18 Uhr, kurz danach haben wir unseren Transferbus gefunden. Nach einer Stunde des Wartens auf andere Gäste von anderen Flügen und einer etwa halbstündigen Fahrt auf einer Schnellstraße, zwängte sich der große klimatisierte Reisebus durch engste Straßen um ein Reisegrüppchen, nach dem anderen am richtigen Hotel abzusetzen. Wir hatten Pech – unser Hotel war das vorletzte auf der verworrenen Route. Kurz vor 22:00 Uhr kamen wir im Hotel an. Vier Stunden Reisezeit, bei einer Strecke, die laut Navi 40 Minuten in Anspruch genommen hätte! Glücklicherweise konnten wir noch am kalten Buffet eine Kleinigkeit essen. Die ganze lange Fahrt hielt uns der Gedanke bei Laune noch heute ins Meer zu tauchen. Nach dem kurzen Imbiss zogen wir also die Badesachen an und machten uns trotz der Dunkelheit auf den Weg.

Der Pool war wundervoll, geschwungene Linie, leicht angeleuchtet ganz in blau und … total leer. „Badezeiten 10:00 bis 18:00 Uhr“ las ich auf einem Schild. Doof, kurze runde vor dem Frühstück oder nach dem Abendessen – aus meiner Sicht die wichtigste Existenzberechtigung eines Pools so nah am Strand – entfällt dann wohl. Macht nichts, wir wollten ja zum Meer. Es gab einen ausgebauten, beleuchteten Fußgängerweg zum etwa 400 Meter entferntem Strand – sehr praktisch, wir mussten den Weg nicht suchen. Doch auch hier standen wir plötzlich vor einem verschlossenen Tor. Das Passieren des Weges zum Meer und vom Strand ist hier nur in den Zeiten von 8:00 bis 20:00 Uhr erlaubt, das Hotelgelände ist eingezäunt.

Die Betriebszeiten des Pools hatte ich nicht weiter hinterfragt. Triefende, tropfende Gäste, die durch die Lobby laufen oder die Terrasse durchqueren, während andere schon beim Abendessen sind, könnte ein nachvollziehbarer Grund sein die Zeiten einzuschränken. Aber Meer nur von 8:00 bis 20:00 Uhr? Das stand im Prospekt nicht drin, scheint kein Entscheidungskriterium für Pauschalreisende zu sein… So kam es, dass wir aus dem Hotel ausgebrochen sind, das heißt einen Umweg über die Rezeption genommen haben, um ans Meer zu gelangen. Etwa eine Stunde später liefen wir tropfend und triefend, aber gut gelaunt durch die Lobby und über die Terrasse während anderen Gäste schick gekleidet an bunten Cocktails nippten. Wir waren mit dem Abschluss des Tages höchst zufrieden.

August 2022