Schrödingers Freund

Sie schloss das Fenster und nahm eine gerahmte Fotografie vom Schreibtisch. Roman in der Badehose. Hinter sich hatte er ein Frottiertuch mit beiden Armen ausgespannt, als wollte er es sich gerade um die Schultern legen. Seine Haare glänzten nass. Er lächelte. Das Bild hat Dorothee an dem etwas ungewöhnlichen erstem Treffen am See gemacht. Mila hatte das Bild eingerahmt und ihr geschenkt. Auf dem Rahmen stand in großen bunten Lettern sorgfältig per Hand geschrieben und ausgemalt – SCHRÖDINGERS FREUND. Mila schenkte das Kunstwerk als Erinnerung an Dorothee kurz nach ihrem Gespräch.

Gleich am Abend nach dem kurzen Aufruf per Textnachricht „Wir müssen reden“, trafen sich die Freundinnen im gemütlichen Innenhof ihres Lieblingsrestaurants.

»Es macht mich kirre, nicht zu wissen, was ich für ihn bin«, schloss Dorothee nach der Zusammenfassung des Tages mit Roman am Strand. Die “Homemade-Limonaden“ standen bereits vor ihnen.

»Jetzt warte doch, ihr habt euch einmal getroffen, da muss man das noch gar nicht wissen«, Mila erfüllte genau die ihr zugedachte Rolle: mit kühlem Kopf die Dinge zurechtzurücken.

»Es war ja eigentlich mehr als einmal. Klar, nur für uns beide zu zweit ist es das erste Treffen gewesen. Aber das nächste liegt noch so fern in der Zukunft. Er kommt erst in vier Wochen wieder her. Meinst du, ich sollte nachfragen, wie er sich unsere Zukunft vorstellt?«

»Damit versetzt du ihn in Angst und Schrecken, weil er dann denkt, du willst ihn sofort heiraten. Nach diesem Gespräch weißt du ganz genau, dass er euch gar nicht zusammen sieht, aber das ist nicht das, was du möchtest. Nur was genau möchtest du?« Mila trank einen Schluck von ihrem hellgrünen Getränk mit einem Zweig Minze im Glas.

»Ich habe die Zeit mit ihm sehr genossen. Ich wünschte mir schon… Im Grunde wünsche ich mir, dass wir einfach weitermachen und schauen, was wir miteinander erleben wollen. Vielleicht wird eine schöne Beziehung von Dauer daraus«, verträumt rührte Dorothee ihre rosa Limo mit Himbeeren im Glas.

»Du kennst ihn doch kaum«, Mila lächelte, das Gespräch kam ihr bekannt vor. Vor kurzem erst hatte Dorothee ihr erklärt, dass man nach dem ersten Eindruck noch niemanden wirklich kennen kann.

»Aber es fühlt sich gut an.«

»Du flatterst mal wieder deinem Gefühl hinterher. Das hat dich schon in die ein oder andere Bredouille gebracht. Hast du es noch nicht satt?« Mila stand ihr nach jedem Abenteuer zur Seite. In Gesprächen mit ihr konnte Dorothee ihren Kummer oder ihren Ärger loswerden.

»Vielleicht möchte ich es auch deswegen jetzt wissen und mich nicht nur auf mein Gefühl verlassen. Ich möchte mich nicht weiter mit ihm treffen und ihm immer näher kommen, um dann festzustellen, dass er nur einen Kumpel in mir sieht. Ich möchte natürlich auch nicht durch Fragen etwas kaputt machen, das vielleicht gerade im Entstehen ist.«

»Nach dem, was du erzählt hast, sieht er ganz sicher nicht nur einen Kumpel in dir. Genieße es einfach. Es ist doch schön, wie es ist, das gute Gefühl, der Reiz des Neuen und des Unbekannten. Ihr habt einen wunderbaren Weg vor euch, auf dem sich vieles auftun wird, was jetzt noch nicht abzusehen ist. Der vermutlich kein gerades Aufeinanderzulaufen sein wird. Hier gilt mehr als sonst– der Weg ist das Ziel. Bei einem Buch, und sei es noch so spannend, schaust du doch auch nicht am Ende nach, wie die Geschichte ausgeht«, Mila kannte ihre Freundin.

»Natürlich will ich jetzt nicht ans Ende unserer Geschichte springen. Was mache ich denn nun?«

»Wenn du unbedingt was „tun“ möchtest, dann gehst du in deine Werkstatt und produzierst die schönsten Glasperlen«, schob Mila ihr Glas beiseite, um Platz für das Essen zu machen.

Dorothee überlegte, ja, zurzeit hatte sie viel Energie für die Gestaltung ihrer Glasperlen, wagte sich an neue Muster und es kamen schöne kleine Kunstobjekte aus dem Brennofen:

»Die Sehnsucht in künstlerisches Schaffen verwandeln? Das könnte klappen. Ich verbringe zurzeit eh mehr Zeit in der Werkstatt als gewöhnlich.«

»Na, dann machst du es ja schon. Geh deinen Hobbies nach, treff dich mit deinen Freunden, – Mila begutachtete ihre Bowl mit viel grünem Gemüse.« Sehe es als Vorauszahlung. Wenn ihr zusammenkommt, braucht ihr viel Zeit für eure Zweisamkeit, dann bleibt alles andere erstmal auf der Strecke.

»Das hört sich gut an«, Dorothee spießte eine Süßkartoffel auf.

Mila lachte auf:

»Entschuldige, ich musste nur gerade an Physik in der Schule denken«, beantwortete sie Dorothees fragenden Blick.

»Physik?« Dorothee sah Mila entgeistert an.

»Kennst du „Schrödingers Katze“? So ähnlich ist es bei dir.«

»Physik hatte ich abgewählt. Gehören die Katzen nicht eher zu Bio?«

»Nein, „Schrödingers Katze“ ist ein Gedankenexperiment, bei dem eine Katze in eine Kiste mit Gift eingesperrt wird. Die Kiste ist so eingerichtet, dass sobald du sie öffnest, die Giftampule kaputtgeht und die Katze dann ganz sicher tot ist. Solange du die Kiste also nicht öffnest, kann die Katze sowohl tot als auch lebendig sein«, Mila hatte oft verschlungene Gedankengänge, die sich am Ende als hilfreich herausstellten. Dorothee überlegte:

»Ja, klingt so ähnlich. Wenn ich für mich eine Klarheit herbeiführe, dann platzt die “Giftampule“ und es ist vorbei«, Dorothee rührte gedankenversunken im halbleeren Glas mit dem Metallröhrchen, was ziemlich laut klimperte. Mila nahm ihre Hand, so dass Dorothee das Röhrchen loslassen musste und zu Mila hochschaute.

»Auf deinen “Schrödingers Freund“!« Das Klirren der zusammenstoßenden Gläser und das Lachen der beiden Frauen füllte den kleinen Innenhof.

»Das war ein schöner Tag am See«, Roman kam unbemerkt ins Zimmer, umarmte Dorothee zärtlich von hinten und schaute auf das gerahmte Bild. »Du hast mir nie erzählt, was die Beschriftung zu bedeuten hat.«

August 2022