Wir waren letzten Sommer aus dem Hotel ausgebrochen. Nach einem Tag des Befolgens der vorgegebenen Zeitpläne hatten wir uns an diese eine Vorgabe nicht mehr halten wollen, denn Reisen hat für mich sehr viel mit Freiheit zu tun. Aber alles der Reihe nach.
Aufgewachsen als Deutsche in der Sowjetunion, war das Reisen nur eingeschränkt möglich. Grenzgebiete des Landes durften wir nicht bereisen und ans Ausland war sowieso nicht zu denken. Die Überlegenheit des sozialistischen Systems durfte ja nicht durch „Abstimmung mit den Füßen“ untergraben werden. Auch im sozialistischen System war das Reisen eine Frage des Geldbeutels, meine Mutter hatte dafür gesorgt, dass wir trotzdem jeden Sommer für ein, zwei Wochen die Umgebung wechselten und günstig mit Bussen und Privatunterkünften unterwegs waren. So waren wir mal in den hohen Bergen, am Stausee oder am salzigen Binnensee. Für uns Stadtkinder war es eine ganz wichtige und tolle Erfahrung: das geregelte Stadtleben hinter uns zu lassen und uns der Natur und den Elementen zu nähern. Damals war es ganz normal, dass am Ziel angekommen, wir von Haus zu Haus geklingelt hatten, um eine Unterkunft für den Aufenthalt zu finden. Wir reisten ganz oft zusammen mit meiner Tante und ihren beiden Kindern. Manchmal war es etwas mehr geplant, da gab es eine Siedlung des Unternehmens meiner Mutter oder ihrer Schwester mit abgestellten Eisenbahnwaggons, von denen einer für uns sechs gebucht wurde. Die Wohnwägen waren nicht viel anders als das, was man sich heute unter einem „mobile home“ vorstellt mit dem Unterschied – die Wägen waren umgebaute Eisenbahnwaggons. Es gab einen Sanitärbereich mit Waschbecken, Gemeinschaftsdusche und Plumpsklo in der Mitte dieser Wohnwagensiedlung.
Es war herrlich. Da gab es all das, was wir aus der Stadt nicht kannten: viel Zeit in der Natur, das Wasser mussten wir aus einem Brunnen holen, damit die Mütter rechtzeitig ein Essen für uns zauberten, Holz sammeln, um abends Feuer zu machen, Taschenlampenpflicht, um nach dem Einbruch der ganz besonders tiefen Dunkelheit, die es in einer Stadt so nicht gibt, noch den Weg zu den Toiletten und den Waschbecken zu finden. Wohin wir im Gänsemarsch zitternd vor Kälte und Angst vor lauernden Gefahren immer alle zusammen gingen. Einkuscheln nachts am besten in zusammengeschobenen Betten in von innen verrammeltem Wohnwagen, da zwei Frauen mit vier Kindern nicht nur den Bären – wie die Mütter uns das damals erklärten – trotzen mussten. Es war eine wirklich schöne Zeit, an die ich gern zurückdenke. Das ganze Maß der Abenteuerlichkeit dieser Reisen habe ich begriffen, als ich selbst Mutter geworden bin.
Nach Deutschland ausgewandert, konnten wir reisen, wohin wir wollten. Mein Vater war auch hier, was das Reisen angeht, schwerfällig. Wir reisten also meist zu dritt: meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir waren von der Möglichkeit fasziniert, andere Länder zu bereisen. Organisierte Busreisen nach Paris und Budapest waren einfach klasse. Die Freiheit, die sie boten, überwog bei weitem die Einschränkungen, die eine Busreise nun mal mit sich brachte.
Dann gab es eine Zeit der Pauschalreisen im Sommer. Auch das war seinerzeit eine Freiheit gewesen. Für gar nicht so viel Geld, die ich als Schülerin in den Ferien verdienen konnte, waren Reisen auf Inseln und ans Meer möglich.
Dann kam das Studium und damit die Zeit, in der ich mir nicht mal Pauschalreisen leisten konnte. Aber auch das hielt mich nicht vom Reisen ab. Es fand sich eine Clique aus sechs Leuten, in zwei Autos und drei Zelten fuhren wir nach Italien, den Kofferraum voll Raviolidosen. Es war nicht viel anders als in der Kindheit. Wir sind einfach darauf los gefahren zu einer Stadt, die wir vorher festgelegt hatten. Am Zielort angekommen hatten wir nach einem Zeltplatz gesucht, der Platz für drei Zelte nebeneinander bot. Diesmal waren wir selbst für das Kochen an den Gaskochern zuständig. Die Raviolidosen waren da sehr praktisch. In diesen Urlauben hatte ich genug Ravioli für mein ganzes Leben gegessen. Ich muss gestehen, ich tue mich seitdem schwer, Ravioli auch in feinen Restaurants zu bestellen, die mit den Dosenravioli höchstens ihren Namen gemein haben. Aber das war nichts im Vergleich zur Freiheit, unterwegs zu sein, am Strand Feuer zu machen, bis in die Nacht zu sitzen, zu reden, Musik zu hören. Ich hatte den coolsten Freund – den mit der Gitarre, die auch im ganz vollen Auto Platz gefunden hatte. Die Reiseclique und die Reiseziele wechselten im Verlauf des Studiums, das Zweierzelt blieb immer dasselbe.
Als der coole Freund mein Ehemann wurde und wir – nun selbst Eltern – den Urlaub brauchten, um auch mal die Verantwortung abzugeben und uns einfach zurückzulehnen und andere organisieren und kochen zu lassen, waren wir einige Jahren als Pauschalreisende unterwegs. Die An- und Abreise, Unterbringung, Mahlzeiten waren geregelt und verlässlich da. Unsere Freiheit hatten wir darin, direkt nach der Ankunft ins Meer zu springen – unabhängig von der Tages- oder auch Nachtzeit. Vor Ort die Gegend zu erforschen, Sehenswürdigkeiten zu bereisen, dafür das bereits bezahlte Essen und die Hotelinfrastruktur nicht zu nutzen. Wir hatten die Freiheit, das zu tun, worauf wir Lust hatten.
Es kam auch mit Kindern die Zeit, in der das tägliche Kochen abzugeben und dafür von einer Großküche bekocht zu werden, zu so häufigen Essen auswärts führte, dass eine Hotelinfrastruktur keinen Sinn mehr machte.
Seitdem hatten wir auf der Suche nach der passenden Urlaubsform einiges ausprobiert. Der coole Typ mit Gitarre hatte sich nun ein Mountainbike angeschafft und damit die Alpen überquert. Die drei Kinder und ich waren mit einem geliehenen Wohnwagen dabei, morgens hatten wir uns verabschiedet und abends am verabredeten Campingplatz wieder getroffen. Es war toll, die kommende Übernachtung erst am Vorabend zu planen, unterwegs einfach stehen zu bleiben, weil die Bergwiese reizvoll aussah und wir die Beine vertreten oder uns eine Ruine etwas genauer ansehen wollten.
Städtereisen waren auch für mich mit meinen Kindern wichtig. Mit genügend Englischkenntnissen und Reiseerfahrung, mussten es keine Pauschalreisen sein. Anfahrt und Abfahrt planen, Hotel suchen, zumindest den ersten Weg zum Hotel kennen und einen Überblick über Sehenswürdigkeiten, die wir erleben wollten. Bereits unterwegs oder erst vor Ort konkretisierten wir unsere Vorhaben als Tagestouren. Wir waren auf solchen Reisen unsere eigenen Reiseführer, mit allem, was dazugehört.
Nach zwei Jahren mit Corona, in denen das Reisen wieder schwierig war, hatten wir so viele Kurzurlaube im letzten Jahr zu verschiedensten Orten in Europa geplant, dass einer davon nach vielen Jahren freien Reisens aus Bequemlichkeit ein Pauschalurlaub wurde.
Das Flugzeug landete planmäßig. Nach einer Stunde des Wartens im Transferbus auf Gäste von anderen Flügen und einer kurzen Fahrt auf einer Schnellstraße zwängte sich der große klimatisierte Reisebus durch engste Gässchen, um ein Reisegrüppchen nach dem anderen am richtigen Hotel abzusetzen. Unser Hotel war das vorletzte auf der verworrenen Route. Im Dunkeln kamen wir an. Vier Stunden Busfahrt, bei einer Strecke, die laut Navi 40 Minuten in Anspruch genommen hätte! Die ganze lange Fahrt hindurch hielt uns der Gedanke bei Laune, noch heute ins Meer zu tauchen. Wir zogen die Badesachen an und machten uns trotz später Stunde auf den Weg.
Es gab einen ausgebauten, beleuchteten Fußgängerweg zum etwa 400 Meter entferntem Strand. Doch plötzlich standen wir vor einem verschlossenen Tor. Das Passieren des Weges zum Strand war nur in den Zeiten von 8:00 bis 20:00 Uhr erlaubt.
So kam es, dass wir aus dem Hotel ausgebrochen sind, das heißt einen Umweg über die Rezeption genommen hatten, um ans Meer zu gelangen. Etwa eine Stunde später liefen wir tropfend und triefend, aber gut gelaunt an schick gekleideten Gästen, die an bunten Cocktails nippten, vorbei. Wir waren mit dem Abschluss des Tages höchst zufrieden.
August 2022