»Entweder schlucken sie uns oder wir sie«, sagte oft Tims Vater bei wichtigen Abendessen unterbrechenden Telefonaten. Er schrie dann meist sehr laut in sein Handy bis er den Blick von Mama auffing und in sein Arbeitszimmer verschwand, um hinter der geschlossenen Tür weiter zu schreien.
Als Tim zum ersten Mal ans Meer ging, beschloss er:
»Entweder verschlingt mich die Welle oder ich verschlinge sie.«. Mama und seine kleine Schwester Mimi waren noch dabei die Sachen aus dem Koffer auszupacken als er sich die Badehose geschnappt hatte und direkt zum Strand gerannt war. Er machte also den Mund weit auf, noch weiter und noch ein bisschen weiter und noch viel weiter, bis er die ganze Welle verschlingen konnte. Aber da kam auch schon die nächste, bei der zweiten viel es ihm leichter die Welle zu verschlingen. Und so verschwand eine Meereswelle nach der anderen in Tims Mund.
Ruhig wurde es auf einmal: keine tosende Brandung mehr an den Felsen der kleinen Bucht. Die Fische versteckten sich in den dunklen Tiefen. Die Krabben krabbelten in ihre Löcher und zogen Steine davor. Selbst der Wind hielt inne, um zu schauen, was passiert war. Still, wie ein Tümpel lag das Meer da. Auf einmal roch das Meer modrig. Die Strahlen der Sonne reflektierten von der Oberfläche so, dass Tim glaubte tote Fische mit dem Bauch nach oben auftauchen zu sehen. Er erschrak so sehr, dass er alle Wellen auf einmal ausspuckte und zum Haus rannte, aus dem gerade seine Mama und Mimi rauskamen.
Tim rannte direkt seiner Mama in die Arme, kuschelte sich in die duftende sichere Umarmung ein und weinte los. Er wusste nicht, warum er weinte, denn eigentlich war er der Sieger und hatte die Wellen geschluckt, bevor sie ihn geschluckt hatten. Vielleicht hatte er einfach nicht alle Wellen wieder ausgespuckt und sie schüttelten ihn jetzt eine nach der anderen durch, was sich für Mimi wie schluchzen anhörte. Mama war warm und geduldig, wie der Strand. Sie war nur da und empfing all die Wellen, die aus Tim raus mussten.
Tim wollte an diesem Tag nicht mehr ans Meer. Am Abend als Mimi schon schlief und Mama zu Tim ans Bett kam, erzählte er ihr wie er die Wellen erst verschlungen und dann ausgespuckt hatte.
»Die Meereswellen sind nicht zum Verschlingen da«, sagte Mama, als sie Tims Erzählung bis zum Ende gehört hatte. »Die Wellen sind zum Eintauchen und sich schaukeln lassen.«
»Wie das?« Tim atmete erleichtert auf, weil Mama ihn nicht ausgelacht hatte.
»Du kannst dich auf das Wasser legen und einfach darauf schaukeln. Das Meer trägt dich, wenn du ihm vertraust und dich entspannt ins Wasser legst. Am besten gehst du so tief ins Wasser, dass die Stelle, an der sich die Wellen überschlagen hinter dir liegt. Du kannst zwischen zwei Wellen diese Linie passieren oder durch eine Welle hindurch tauchen.«
»Das hat nicht geklappt«, beharrte Tim. »Ich konnte gar nicht reingehen.«
»Das Meer ist keine asphaltierte Straße, auf der du gerade auf dein Ziel zugehen kannst. Du visierst dein Ziel an und lässt dich auf die Wellen ein. Schwingst mit ihnen mit und lässt dir von ihnen helfen«, Mama küsste ihn auf die Stirn. »Gute Nacht«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Das klang sehr wundersam, Tim schlief bei den Überlegungen ein, wie er mit den Wellen schwimmen und sich von ihnen helfen lassen konnte. Er träumte, wie er klein war und geschützt in einem Kinderwagen lag, die Welt zog schaukelnd an ihm vorbei. Er schlug mit den Händen auf die dünne Decke, mit der er zugedeckt war und sie spritzte. Da bemerkte er, dass er nicht im Kinderwagen lag, sondern im Meer, das ihn schaukelte.
Als er am nächsten Morgen wach wurde, machte ihn weder Angst noch Wut starr beim Gedanken an die Wellen. Nach dem Frühstück half er Mama das Geschirr abzuräumen und wartete geduldig, bis sie die Strandtasche gepackt hatte. Allein wollte er heute nicht zum Meer laufen. Am Strand angekommen, näherte er sich langsam dem Wasser, beobachtete die Wellen und ging erstmal nur zwei Schritte hinein.
Das Wasser kitzelte ihn mit dem Sand, das es unter seinen Füßen wegzog. Tim lachte. Gestern hatte er gar nicht gemerkt, dass die Wellen ihn kitzeln und mit ihm spielen wollten.
Das Wetter war schön an den beiden folgenden Wochen am Meer, die Wellen waren mal höher mal kleiner. Tim traute sich Tag für Tag immer tiefer ins Meer hinein. Am letzten Tag fiel ihm der Abschied schwer. Er hatte gelernt mit den Wellen zu spielen, mal sich tragen zu lassen, mal durch sie hindurchzutauchen. Auch mal sich von ihnen überrollen zu lassen, machte ihm keine Angst, denn er wusste wo er das machen konnte, um sicher wieder auf die Beine zu kommen.
Als sie nachhause kamen, erzählten Tim und Mama die Geschichte vom Tim dem Wellenreiter. Die Geschichte vom Tim dem Wellenfresser hatten die beiden für sich behalten. Mir hat eine geschwätzige Meereswelle diese Geschichte zugetragen.