Unterwegs, in Bewegung zu sein hat immer mit der Änderung des Blickwinkels zu tun. „Man lebt in der ganzen Welt statt nur in Räumen, die zur Abgrenzung gegen sie errichtet wurden“ lese ich über die Fortbewegung zu Fuß in Rebecca Solnits Essay „Vermessung der Landzunge“ in der Straßenbahn sitzend. Der Entschluss die Zeit unterwegs nicht „produktiv“ sondern für Schönes zu nutzen setze ich seit einiger Zeit lesend, schreibend, podcasthörend um.
Auf einmal kann ich das Gelesene nicht mehr verstehen. Zwei junge Damen (viel zu lebendig für die frühe Uhrzeit) haben sich direkt hinter mich platziert und überlegen lautstark, wieso die Stimme der Straßenbahn-Ansage so seltsam klingt. „Entgrenzung“, denke ich zuerst. „Wieso müssen wir das so penetrant mithören?“
Ist diese Sorglosigkeit einer lauten Unterhaltung wichtiger, als andere nicht zu stören? Aus dem Buch aufgetaucht schaue ich mich in der Straßenbahn um. Einige sind so tief in die Welt hinter ihren Displays eingetaucht, dass sie das Gespräch nicht mitbekommen. Andere lächeln den Ausführungen lauschend.
Ich erinnere mich an die Zeit der täglichen Zugfahrten ins Büro. Täglich gleiche Zeit, gleicher Zug, gleiche Gesichter. Eine Dame nutzte die Zeit im Zug für den täglichen Telefonat mit ihrer Mutter. Anfangs fühlte ich mich ebenfalls gestört. Bis die Neugier siegte. Fast mit Spannung wartete ich auf die Fortsetzung des täglichen Berichts, war vorgewarnt, wenn sie urlaubsbedingt nicht erschien, bangte um sie, als sie ohne Vorankündigung auf dem Gleis fehlte. Einige Zeit später mit eingegipsten Bein wieder im Zug, hatten alle Mitereisende den Skiunfall in ausführlichem Bericht mitbekommen.
Meine Haltestelle naht. Ich packe entspannt mein Buch ein. Freue mich über junge Menschen, die sich unterhaltend und nicht aufs Display oder in ein Buch starrend den morgendlichen Weg gestalten und merke erst später, schon wieder anderer Blickwinkel als am Anfang der Reise.
Das macht wohl den Zauber des Reisens aus.