Dublin – eine harte Schale

Für Zach Mossloth

Den ersten Streifzug durch Dublin starte ich am Montag Abend. Ist es ein guter Zeitpunkt um den ersten Eindruck zu gewinnen? Die Menschen müde vom Wochenende haben noch eine ganze Arbeitswoche vor sich. Die Straßen sind leer – wenig Autos, wenig Menschen. Die Geschäfte geschlossen, nur wenige Pubs bieten den verirrten Neuankömmlingen eine Zuflucht. Die Stadt liegt pur vor einem, ohne Ablenkung durch Straßenkünstler und Menschenströme, ohne die bunten Stände mit Ansichtskarten und duftenden Cafés, nur Wände, geschlossene Fenster und Zäune. Häuserzeilen ohne Unterbrechung, die das bedrückende Gefühl in Gefahr zu sein und nicht flüchten zu können, erzeugen.

Der erste Weg in die Stadtmitte führt mich über eine Straße, die rechts und links mit zweistöckigen Wohnhäusern aus dunklem Backstein gesäumt ist. Von einer Kreuzung bis zur nächsten sind es Reihenhäuser in einer Zeile, ohne Abstand, ohne Lücken. Alle sehen gleich aus. Die winzigen Vorgärten, auf denen höchstens zwei Fahrräder nebeneinander Platz haben, sind sehr unterschiedlich, von einer kahlen zugepflasterten Ablage für Baumaterialien bis zu einem in Grün und Blütenpracht versinkendem Gärtchen. Diese kleine Stückchen Individualität werden jedoch durch Zäune eingezwängt. Jeder einzelne winzige Vorgarten ist von einem Zaun umrandet. Die Zäune sind alle gleich. Es sind Zäune aus soliden, schwarz lackierten Metallstäben in gleichmäßigem Abstand. Mannshohe Zäune entlang der schmalen Bürgersteige. Kein Abstand zwischen den Häusern, keine Möglichkeit irgendwo rein zu gehen oder sich zu verstecken, kein Entrinnen.

Einmal die Zäune so in den Fokus gerückt, sehe ich überall in der Stadt als erstes diese strengen, gleichmäßigen, bewachenden Gitter. Zäune um Wohnanlagen, Zäune um Kinderspielplätze, Zäune um Kirchen, Zäune um Parks, Zäune um Bäume innerhalb eines Parks, der selbst hinter einem Zaun ist.

Etwas weiter Richtung des Flusses Liffey, dort wo Geschäfte und Kneipen das Straßenbild dominieren, verschwinden die Zäune. Hier sind die Glasflächen der Fenster und Türen, die am Tag einen Blick nach Außen erlauben, mit Metallrollläden dicht verschlossen.

„So muss eine Stadt im Krieg aussehen“, geht mir durch den Kopf – vielleicht wegen der aktuell omnipräsenten Nachrichten aus Ukraine. Die wenigen Menschen und Autos auf den Straßen verstärken diese Stimmung.

Es gibt viel mehr blinde Fenster auch am Tag. Die Nationalbank von Irland hat keine Fenster. „Das Geld was dort reinkommt sieht kein Tageslicht mehr“, scherzt der Stadtguide. Eine Museumswand, zunächst wird die Aufmerksamkeit durch bewegtes Bild gefesselt, im Hintergrund eine im Dubliner grau gehaltene Wand mit einem Fenster. Etwas stört. Bei genauerem Hinsehen sind es zugemauerte Flächen. Die Fenster fehlen nicht komplett, denn Gebäude ohne Fenster fallen sofort auf – sind außerhalb unserer Norm. Also sind Fenster angedeutet, so dass, wenn man nicht genau darauf achtet, es einem gar nicht auffällt. Es sieht offen und zugänglich aus, außer man möchte ins Fenster schauen, dann ist man überrascht und wundert sich, es früher nicht bemerkt haben.

Zäune und blinde Fenster – alles verschlossen und unzugänglich – in einer Stadt, deren Geschichte und Denkmäler sich vor allem um die Befreiung von England drehen. Ein Freiheitsliebe eingesperrt in Häusern ohne Fenster und Grundstücke hinter Zäunen.

Diesen Widerspruch – der nationale Freiheitsdrang und das eingesperrt sein in den eigenen Häusern auf eigenen Grundstücken – kann ich nicht auflösen.

Am nächsten Morgen gehe ich in ein Café in der St. Patrick Street. Vorbei an den drei Tischen auf dem schmalen Bürgersteig direkt an der – um die Uhrzeit gut befahrenen – Fahrbahn, in den kleinen Innenraum.

Im Hintergrund läuft chillige Musik. Wände sind im gedeckten Gelb gestrichen. Die Nachbesserungen zeigen sich wie Flicken unverblümt in verschiedenen Gelb- und Brauntönen. Kabel lose hängend, an einigen Stellen an den Wänden und an der Decke befestigt. Die Wände haben kaum einen freien Fleck: Halogenleuchten in grün und rot, die das Wort „Pizza“ formen; aus Besteck gebaute Uhr; gerahmte kleine Zeichnungen, darunter eine von einer aufgeschnittenen Zwiebel und eine von einem toten Spatz; Druck des Ausschnitts des berühmten Gemäldes der barbusigen französischen Revolution; eine Sammlung gerahmter Fotoaufnahmen von Straßen und Gebäuden, sowohl schwarz-weiß als auch bunt; ein langes schmales Plakat, mit einem Indianergesicht, das um den Schutz der Natur wirbt; eigens für das Café im Jugendstil gestaltete Tafel mit der Liste der angebotenen Speisen und Getränke und noch vieles mehr, man könnte Stunden verbringen diesen wilden Mix an Formen, Farben und Stilen zu betrachten und würde immer wieder Neues entdecken.

Der Raum wird etwa in der Mitte durch eine Theke in zwei Bereiche geteilt. Hinter der Theke drei Leute durchgehend geschäftig, es wird ununterbrochen aufgeräumt und vorbereitet. Die Theke ist mit Glas abgedeckt unter einer Hälfte vollgestopft mit verschiedenen Arten von Gebäck, unter der anderen Hälfte viele Stahlbehälter mit klein geschnittenem Gemüse, Saucen, Salaten und anderem Essbaren, was ich nicht zuordnen kann. Daraus werden vor allem die am meisten gefragten Sandwiches belegt.

Die Möbel ist genauso bunt gemixt, wie die Wanddekoration. Einige Tische verschiedener Form und Größe mit weißen Marmorplatten auf schwarzen geschwungenen Beinen aus Gußeisen, umstellt mit Holzstühlen in unterschiedlicher Form, als wäre nach jedem Flohmarkt ein Stuhl dazu gekommen. Daneben ein quadratischer Holztisch mit Lederkissen gepolsterte Holzbank lädt zum gemütlichen versinken ein. Nach einer Tasse aufmunterndem Schwarztee, gehe ich wieder hinaus auf die unwirtliche Straße.

Nicht nur hier, auch in anderen Cafés und Pubs herrscht eine chaotische Gemütlichkeit – ganz im Kontrast zum Straßenbild. Es scheint ihn zu geben diesen weichen, wohligen Kern der Stadt, den ich immer nur in kleinen Portionen genieße, während die grauen eingezäunten Straßen mich fest im Griff zu haben scheinen.

Junge Leute unterhalten sich angeregt in der vollen Straßenbahn, mit Pappbechern in der Hand, als ich am letzten Abend unterwegs bin. Ein junger Mann, seiner Begleiterin ganz zugewandt, versucht sie für einen neuen Film zu begeistern. Sie streicht sich die Strähne aus dem Gesicht, als sie ihn anlächelt. Scheinbar dem Gedränge um sie herum geschuldet rückt er ein Stückchen näher immer noch den Abstand der frischen zarten Sympathie wahrend. An der Haltestelle, an der die beiden aussteigen, tönt Musik und bunte Lichter sind um die Ecke zu sehen. Er hebt beim Aussteigen den Arm schützend um ihre Schultern ohne sie zu berühren, schützt sie vor zufälligem Zusammenstoß mit den anderen Passagieren. „Bevor sie sich verabschieden werden, gibt es heute den ersten Kuss“, geht es mir durch den Kopf und ich lächle selig in Erinnerung an den prickelnden Geschmack eines ersten Kusses. Dublin kann auch die Stadt der Liebe sein. Wie sehen wohl die beiden diese Stadt? Vielleicht hat Dublin eine zweite Chance verdient.

Juli 2022