Sina und Rosie waren in der offenen Küche und richteten alles fürs Raclette.
»Ist das nicht super?!« Rosie hatte immer etwas Schrill-Aufgeregtes in der Stimme, wenn sie nervös war. »Letztes Jahr wünschten wir uns endlich einen Partner und nun ist der Wunsch für uns beide in Erfüllung gegangen. Im kommenden Jahr werden wir ganz viel zu viert unternehmen.« Ein Böller ging direkt vor dem Fenster los. Sina zuckte zusammen. Eine Reihe von Affären folgten ihrer Scheidung. Die letzte hätte sie gern zu einer Beziehung ausbauen wollen. Doch das hatte nicht geklappt. Es war wohl auch besser so. Sonst hätte sie Holger nicht kennengelernt, der gerade in Rosies Bücherregal stöberte. Ja, sie freute sich über den neuen Mann in ihrem Leben, mit dem alles wundervoll und unkompliziert war. Selbst die zur Schau gestellte Lustlosigkeit ihrer 15-jährigen Tochter Tiffany, die Silvester nicht mit ihren Freunden feiern durfte und jetzt schmollend sich ganz auf das Display ihres Handys konzentrierte, konnte die Vorfreude auf den Abend nicht mindern. Rosie hatte ein Geheimnis um den neuen Mann in ihrem Leben gemacht, seit zwei Monaten hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihn Sina vorzustellen. Es passte irgendwie, dass er heute mit später Ankunft wieder für Spannung sorgte.
Da klingelte es an der Tür. Rosie ließ das Messer neben die Zucchini auf das Schneidebrett fallen und hastete in den Flur. Holger stellte ein Buch zurück ins Regal, kam auf Sina zu, küsste sie zart und legte seinen Arm um ihre Taille. Sie freute sich auf Rosies Neuen. Sie freute sich im Augenblick der Zweisamkeit nicht allein dazustehen.
Die Begrüßung der beiden im Flur schien Sina unerträglich lange. Ein Böller knallte wieder direkt vor dem Fenster, als sie in die Küche traten. Rosie freudestrahlend und stolz. Und er. Sina hätte einen Satz nach hinten gemacht, wäre sie nicht bereits an Holger angelehnt. Holger umarmte sie etwas fester. Ausgerechnet Paul hatte sie bei diesem Treffen erwartet. Auch sein Lächeln erstarrte, die Augen wurden rund. Als Rosie sie vorstellen wollte, kam Sina ihr zuvor:
»Hallo Paul, welch eine Überraschung.«
Rosie schaute irritiert zwischen den beiden, die sich die Hände zur Begrüßung reichten, hin und her. Paul erklärte schnell, bevor Sina weiterreden konnte:
»Wir haben beruflich miteinander zu tun.«
»Holger«, stellte sich Sinas Begleiter vor. Einmal mehr bewunderte Sina sein Gespür, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.
»Tiffany«, sagte ihre Tochter, die Spannendes witterte und zur Gruppe dazugestoßen war.
»Sina arbeitet im Partnerunternehmen, wir hatten schon gemeinsame Projekte«, erklärte Paul, als Rosie sich etwas verloren zu ihm umdrehte. Dann lächelte sie Sina an und tadelte:
»Und du meintest, es gäbe keine Singles, die du kennst.«
»Wir kennen uns kaum privat«, schob Paul ein, als Sina den Mund aufmachte, ohne genau zu wissen, was sie ihrer Freundin darauf antworten sollte. Noch vor einem Jahr hatte Rosie sie über das Ende der Affäre mit Paul hinweggetröstet, ohne seinen Namen zu kennen.
»Was ist mit dir los?« raunte Rosie, als sie die Platten mit Käse und geschnittenem Gemüse in der Küche richteten. »Wieso hast du ein Problem mit Paul?«
Tiffany war sofort mit langem Hals und gespitzten Ohren neben ihnen. Seit Paul reingekommen war, war sie vom mürrischen Teenager zum hilfsbereiten Engel mutiert und wich Sina kaum von der Seite. Sina hatte fast keine Geheimnisse vor Tiffany, im Zuge des Erwachsenwerdens teilte sie immer mehr mit ihrer Tochter. Aber eine Affäre mit einem verheirateten Mann war so weit von dem entfernt, was sie sich für ihre Tochter wünschte, dass sie sich dafür entschieden hatte, diesen Aspekt ihres Lebens für sich zu behalten.
Sobald Holger es schaffte, Tiffany in ein Gespräch zu verwickeln, tauchte Paul neben den beiden auf. Es gab einfach keine Gelegenheit, mit Rosie unter vier Augen zu sprechen.
Kurz vor Mitternacht gingen alle zusammen mit einer Flasche Sekt auf die Straße. Die Nachbarn brachten eine ganze Batterie von Feuerwerkskörpern in Stellung. Das würde eine schöne Lichtershow geben. Um Mitternacht ließ Paul den Korken knallen. Sie stießen im Lärm der Feuerwerkskanonade an. Als sie zum neuen Jahr die Glückwünsche austauschten, war der Lärm so groß, dass man sich laut redend kaum verstand. Rosie ergänzte die persönlichen Wünsche an Sina mit:
»Ich wünsche, dass wir eine schöne Zeit auch zu viert im neuen Jahr verbringen können.«
»Er ist nichts für dich, er hat es wie dein Ex nicht so mit der …«, der Rest des Satzes ging in der neuen Folge lauter Knaller unter.
»Was?! Wieso magst du ihn nicht?!« Enttäuschung und Empörung standen Rosie ins Gesicht geschrieben.
»Er hat es nicht so mit de…« erneut unterbrach ein nahe gezündeter Heuler Sina.
»Was?!«
»Um Gottes willen, er hat mit mir seine Frau betrogen!« schrie Sina in die plötzliche Stille hinein.
Vier Augenpaare starrten Sina an.