Mein Paris

Paris, du bist meine Liebe auf den ersten Blick, eine leichte, inspirierende Liaison, keine bodenständige Beziehung, die zum verweilen gedacht ist. Natürlich habe ich meine Heimatstadt. Diejenige, in der ich mich ausruhen kann, die mich ohne große Anstrengung durch den Alltag begleitet und mich umsorgt. Ich habe sie sehr gern, wahrscheinlich liebe ich sie sogar; und doch schleiche ich mich manchmal davon um mit Schmetterlingen im Bauch dir – mein Paris – zu begegnen.

Schon als ich dich erreiche, höre ich am Bahnhof das ungeduldige Hupen der Autos und das nervöse Rattern der Mofas. Der stechende Geruch der Abgase, der geschäftige Alltag, auch das bist du, aber lass uns kurz Zeit für uns nehmen.

Auf dem Dach von L’Arc de Triomphe ist der Alltag ganz weit weg. Ich atme dich und betrachte deine Formen, deine mal sanft schlängelnde, mal gerade Linien, die hellen Dächer, die dich wie Haut bedecken, die Seine, die dich umschmeichelt.

Nicht zum ersten Mal, laufe ich mir die Füße platt, weil ich deine Größe nicht begreife. Die breiten Straßen, die großen Häuser, die Sehenswürdigkeiten gigantischer Ausmaße, all das erzeugt eine Illusion der unmittelbaren Nähe, die sich beim Durchschreiten auflöst. Oder schrumpfe ich?

Ich erschaudere vor deinen großartigen Bauwerken. Der Eiffelturm wie aus Spitze gewoben und doch fest und solide. Stärke und Zartheit in einem Bauwerk. Das Sacre Coeur wie aus Zucker gegossen hoch auf dem Berg thronend. Die Treppe immer voll mit Bewunderern, die von hier deinen Anblick genießen. Aber nicht nur die von vielen Postkarten bekannten Gebäude betrachte ich gern. Die Wohnhäuser mit schlanken Fenstern und weißen Fensterläden sind faszinierend. Die französischen Balkone hängen nicht ausladend über der Straße. Sie nehmen sich ganz zurück und bedecken nur ganz leicht mit filigranen, floralen Eisengittern die nackten dunklen Fenster.

Jedes Mal verwöhnst Du mich mit leckerem Essen. Wer braucht schon den teuren Luxus der Sterne-Restaurants, ich genieße die Intimität der kleinen Tischchen in deinen Cafés. Ein Teller für zwei – denn mehr passt eh nicht auf den Tisch. Der vollmundige Wein in kleinen runden Gläsern, der frische Salat, das knackige Baguette. Deine unvergleichlichen Desserts sind eine immer währende Versuchung.

Die Verehrung deiner Bewohner wie deiner Besucher ist am besten in deren Aufmachung zu erkennen. Ob Abends in der Oper, in der Bar mit Livemusik oder in der Metro Mitten am Tag – so viele elegant gekleidete Leute, wie ich noch nirgends sonst gesehen habe, unabhängig davon, ob die einzelnen Kleidungsstücke vom Designer oder aus dem Kilo Shop stammen.

Du bist großherzig und heißt alle willkommen, das Modell, das mit der kleinen Entourage unter unser aller Augen am Ufer der Seine sich in Unterwäsche ablichten lässt, genauso wie den Penner, der in IKEA-Tüten gewickelt vor der Baustelle von Notre Dame schläft.

Ich erinnere mich gern an den Sonntag Morgen als du noch ganz verschlafen mich zum Markt geführt hast. Die Cafés noch von der Trägheit erfasst. Kaum eins war geöffnet, in den offenen nur ganz wenige Besucher. Das Wetter war, wie es schöner nicht sein kann: angenehm warm, blauer klarer Himmel, strahlender Sonnenschein. Die Straßen leer, bis auf den kleinen Lebensmittelmarkt am Place d’Italy. Kaum habe ich ihn betreten, warst du wie verwandelt. Auf einmal ganz bunt und wach. Duftendes Obst und knackiges Gemüse in allen Farben und Formen. Der Fischstand und der Käsestand hatten ihre ganz eigenen Duftnoten, ebenso mit vielfältigen Produkten überladen. Die Marktschreier priesen die Ware und lockten die Besucher an. Ganz schlicht und ländlich, die Eleganz der Mode und die Pracht der Museen waren an dem Morgen nicht präsent.

Auch diesmal wandere ich rastlos durch die Straßen, will dich hören, dich sehen, dich atmen. Ich möchte ganz viel von dir aufnehmen, mitnehmen. Deine Gegensätze inspirieren mich. Bleibe – nicht zum ersten Mal – bei einem Bouquinist stehen. Halte einzelne Bilder, Magnete sogar Bücher – die ich nie lesen werde – in der Hand und überlege mir ein Stück von dir als Souvenir mitzunehmen. Aber das geht nicht, sobald es dich verlässt ist es nur Tand. Ich kann dich so wenig mitnehmen, wie eine Welle vom Meer.

Du bist nicht nur für mich da, ich muss dich mit sehr vielen Teilen. Und mir allein wirst du nie gehören, nicht wenn du so bleibst wie du bist – so wie ich mich in dich verliebt habe. Meine Besuche bei dir scheinen immer viel zu kurz, der Abschied fällt schwer. Und doch wissen wir beide, dass das genau so richtig ist, denn sonst würde ich deiner überdrüssig werden. Bis bald, mon amour.

Mai 2022