Wie immer

Feddersen lebt ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er steht jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kommt um die gleiche Zeit in sein Büro, isst um die gleiche Zeit zu Mittag und geht um die gleiche Zeit schlafen. Und so auch an diesem Donnerstag im November verlässt Feddersen sein Büro pünktlich um 17.30 Uhr. Der Pförtner in der Empfangshalle sagt:

»Pünktlich wie immer, Herr Feddersen.«

»Stimmt genau«, antwortet Feddersen. »Auf Wiedersehen.«

„Wie immer“ ist an Zuverlässigkeit nicht zu überbieten. Eine Sicherheit strömt das „wie immer“ aus, die Feddersen sehr zu schätzen weiß. Nun ist er wieder bei diesem Zustand angelangt.

Am Anfang der Ehe mit Kätchen gab es kleinere Störungen. Obwohl sie genau wusste, dass er seinen Rhythmus hat, bevor sie heirateten, drängte es sie, „Veränderung“ in Feddersens Leben zu bringen. Mal wollte sie beim Chinesen essen, mal überlegte sie sich in den Urlaub an den Gardasee anstatt wie gewohnt zu Feddersens Eltern zu fahren. Gut, sie musste sich umstellen und jeden Urlaub bei seinen Eltern verbringen, weil Kätchen keinen Band zu ihren Pflegeeltern verspürte. Es gab ja auch etliche, da sie in ihren frühen Jahren immer wieder wechselten, bis sie in die Ausbildung kam und so schnell es ging von dem kleinen Lehrlingsgehalt in eine Wohngemeinschaft zog.

Diese Allüren, die seine Frau nach einem halben Jahr Ehe entwickelte, waren störend. Erfreute sie sich vor der Vermählung der Beständigkeit, die, wie sie versicherte, mit Feddersen zum ersten Mal in ihr Leben Einzug hielt, suchte sie förmlich auf einmal nach Unbeständigkeit.

Als er wie immer drei Minuten an der Haltestelle auf den Bus der Linie 60 wartet, lächelt er versonnen. Das Warten ist nie verkehrt. Es lohnt sich nicht viel Aufhebens zu machen um die Dinge, die man gern anders hätte. Geduldiges Warten regelt alles wieder.

Auch diese Phase, als seine Frau mit immer neuen Ideen kam, hat Feddersen einfach abgewartet. Da begriff er erst, dass die Diskussionen nichts brachten, außer Lärm und schlechter Laune, also lernte er nach und nach, die Ideen Kätchens lächelnd über sich ergehen zu lassen. Ein „Das ist eine wunderbare Idee, mein Schatz“ – bewirkte Wunder. Dass die Planungen von Kätchen immer daneben gingen, dafür konnte er schließlich nichts. Der geplante und gebuchte Urlaub musste verschoben werden, weil im Büro eine Krise sein Beiwohnen verlangte. Das Abendessen beim Chinesen fiel buchstäblich ins Wasser, als sie das Haus verließen und Feddersen aus Versehen in die tiefste Pfütze trat, die der tagelange Regen in der Straße hatte entstehen lassen. Die schwarzen Ausgehschuhe waren ganz nass geworden, so konnten sie nicht ins Restaurant gehen. Die braunen Schuhe konnte Feddersen nicht anziehen, sie mussten für den nächsten Tag fürs Büro geschont werden.

Feddersen betrachtet seine braunen Büroschuhe und steigt in den pünktlich ankommenden Bus ein. Willy Otremba fährt ihn seit Jahren.

»Schöner Abend heute«, sagt Feddersen.

»Soll aber noch regnen«, gibt Otremba zurück.

»Dabei hatten wir doch in letzter Zeit eine ganze Menge Regen«, sagt Feddersen.

»Da haben Sie Recht«, Otremba schließt die Bustür und der Bus fährt los.

Freundlich nickend geht Feddersen weiter und setzt sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Er schlägt die Zeitung auf und liest darin.

Kätchen hatte nach und nach immer weniger verrückte Ideen, das Leben normalisierte sich wieder. An grauen regnerischen Tagen, von denen es besonders seit Anfang Oktober viele gab, sah Feddersen seine Frau kaum noch außerhalb des Bettes. Sie stand meist spät auf und legte sich früh schlafen, so dass an diesen Herbsttagen er sich wieder ein bisschen wie zu Junggesellenzeiten fühlte, wo er bei der Wahl des Fernsehsenders am Abend keine Rücksicht auf Kätchen nehmen musste und sogar für sich selbst wieder kochen konnte.

Als der Bus an Feddersens Haltestelle ankommt, steigt er aus und geht den gewohnten Weg. Er betritt leise das Haus, keine Geräusche und keine Bewegung zu hören. Er macht sich selbst etwas zu essen. Nach dem Essen wäscht er ab, räumt auf und geht ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltet. Als er wie immer um 23:00 Uhr das dunkle Schlafzimmer leise betritt, bemerkt er die offene Pillendose auf dem Nachttisch seiner Frau nicht.

November 2022