Die goldene Pralinenschachtel von Edel & Bohne wurde von Kinderhänden aufgerissen. Von viel zu vielen Kinderhänden. Sie griffen gierig rein und holten eine Praline nach der anderen heraus und verschlangen sie tobend und schreiend.
Noch vor einigen Minuten freute sich Kaleeny wie alle ihre Schwestern in der Pralinenpackung darauf, ausgepackt zu werden. Doch so lief es falsch. Sie wusste nicht mehr, woher sie diese Erwartung hatte. Als die Pralinen in der Confiserie abkühlten und auf die Verzierungen warteten flüsterten sie sich bereits gegenseitig die Geschichte der Versuchung zu: bewundernder Blick, das zarte entblättern aus der Goldfolie, das Bestaunen weichen Kurven, das Einatmen des Schokoladendufts, die zärtlichen Berührungen der Lippen. Die Spannung auf die Spitze getrieben, bis endlich die Zähne knackend die Schokoladenhülle zerbrachen, die weiche Füllung im Mund zerfloss und die Verschmelzung vollendete.
Das alles, solange sie frisch und braun waren, auf jeden Fall bevor die Oberfläche hell wurde, die Füllung austrocknete und die Pralinen ungenießbar würden. Das Schicksal der verschmähten Jungfern wollten sie auf keinen Fall erleiden. Und so lagen sie ganz ruhig, als sie verziert wurden und waren voller Vorfreude, als sie in glänzende Goldfolie eingepackt wurden und in der kühlen Dunkelheit auf die Vollendung ihrer Bestimmung warteten.
Als das Licht durch den Riss das Innere der Schachtel erhellte, zerriss der Traum der sanften Verführung. Kaleeny sah ihre Schwestern achtlos entblättert und verschlungen. Schmelzend vor Ärger hinterließen sie Spuren auf gierigen Fingern und Mündern.
Die klebrig-schokoladigen Finger griffen nun auch nach Kaleeny. Sie sah das Zimmer, auch das war ganz anders. Das Durcheinander der Kissen auf dem Sofa, zerrissenes Geschenkpapier, aufgebrochene Schachteln in verschiedenen Größen bedeckten den Boden. Allein der geschmückte leuchtende Tannenbaum mit einem wundervoll glitzerndem Stern an der Spitze erinnerte Kaleeny, daran, wie es hätte sein sollen.
Die Tür in den Raum öffnete sich.
„Was treibt ihr da?“ eine strenge Erwachsenenstimme brachte die ganze Bande zur Stockstarre. Die Hand schloss sich um Kaleeny. „Ihr durftet nur eure Geschenke auspacken!“ Langsam wanderte die Hand mit Kaleeny in eine dunkle Hosentasche, sie landete auf einem Haargummi neben einem Display.
Während den Befehlen der Erwachsenenstimme folgend die Kinder beschäftigt waren, brannte die Wut in Kaleeny, befeuert von der Hilflosigkeit, die Situation ändern zu können.
Das kann doch nicht mein Ende sein, so möchte ich das nicht. Kaleeny schloss die Augen und wünschte, es gäbe ein anderes Schicksal für sie.
Ein Zersplittern holte Kaleeny in die Gegenwart zurück. „Seid doch vorsichtig! Jetzt ist der Stern heruntergeflogen!“ schimpfte die Erwachsenenstimme.
Ein fallender Stern erfüllt Wünsche, erinnerte sich Kaleeny. In der Hosentasche wurde sie immer weicher und das Kühle des Displays sog sie ein.
„Iiii!“ und Lachen erklangen, als Kaleeny das nächste Mal die Augen öffnete. Etwas war anders. Sie starrte in ein Kindergesicht ganz nah, war aber hinter einer Art Glasvitrine geschützt.
Als sie an sich heruntersah und erkannte, was aus ihr geworden ist, leuchtete sie glücklich. Sie würde mit keinem Menschen verschmelzen, aber auch nicht zu einer alten Jungfer werden. Kaleeny war zum Kackehaufen-Emoji geworden. Von da an flog sie von Display zu Display rund um die Welt, ohne Geschmack und ohne Geruch. Wenn ihr Anblick Erwartungen erzeugte, dann waren die Menschen, die sie sahen, erleichtert, dass diese Erwartungen nicht erfüllt wurden.