Es ergibt sich nicht ganz geplant, dass wir nach einem Ausflugtag einen Halt in meinem ehemaligen Viertel machen können. Die Zeit dafür ist später in der Reise und ohne die Reisegruppe eingeplant. Wir ergreifen die Gelegenheit und der Minibus, in dem wir unterwegs sind, steuert mein Viertel – damals hieß er „Sonneviertel“ – an. Der Name ist inzwischen ein ganz anderer.
Wir nähern uns dem Stadtteil, in dem ich gewohnt hatte. Ich weiß nicht, wo wir sind, kann die Häuser zwischen denen wir fahren, nicht mit den Bildern aus der Kindheit zusammenbringen. Erst als wir an der Schule ankommen, wird mir es klar, aber erkennen kann ich immer noch nichts: Die Straßen sind schmaler als in meiner Erinnerung, die Bäume sind gewachsen. All die leeren Stellen zwischen den Häusern des damaligen Neubaugebiets, an die ich mich erinnere, sind verschwunden, alles ist zugebaut. Die Schule ist schön, aber es ist nicht mehr meine Schule, das Himmelblau ist mit weißen Kacheln überdeckt. Die weiß umrandeten Fenster sind nun bunt umrandet. Unter unserem Klassenzimmer im 1. OG, das auf Säulen stand, unter dem wir uns in den Pausen vor dem Regen versteckten, hat nun ein Erdgeschoss bekommen. Um die Schule herum ist ein Zaun, den es früher nicht gab. Wir konnten von jeder Seite auf das Schulgelände treten. Wir laufen an der Außenseite des Zauns entlang, da ich nicht weiß, ob wir Richtung unseres Hauses das Schulgelände verlassen können, der Zaun ist hoch.
Da wo früher ein Wasserkanal mit Brücke war, sind neue Häuser. Das Wasser war schon damals unter die Erde verlegt worden, aber die weitläufige leere Stelle ist nun verschwunden.
Die Gitter an den Fenstern unserer Wohnung sind alt, aber nicht unsere. Ich erinnere mich, wie mein Vater ein Gerät gebaut hatte, um aus Stahlstiften Muster zu biegen. Opa hatte dann die gebogenen Stangen zu schönen Fenstergittern zusammengeschweißt.
Vor dem Haus gab es Flieder und eine Hecke. Heute stehen dort zwei Tannenbäume, und dazwischen befindet sich eine Betonplatte, die früher ein Parkplatz war. Die Bordsteinkanten um diesen früheren Vorgarten sind so hoch, dass man das Auto dort nicht mehr abstellen kann. Es ist weder ein Garten, noch ein Parkplatz. Keinen kümmert es.
Die Eisentür zum Treppenhaus ist offen. Sie ist frisch gestrichen, sieht aber wie ein hohler Rahmen aus. Die Briefkästen neben der Eingangstür sind verschwunden. Gibt es keine Post mehr? Die Tür zu Wohnung Nummer 3 ist die teuerste und stärkste Tür auf dem Stockwerk. Massiv, zwei Schlösser, ein Guckloch. Die Wohnungen in diesem Plattenbau sind Privateigentum und jeder baut sie so um, wie er mag, egal ob innen, im Treppenhaus oder die Verkleidung außen im Bereich um die eigenen Fenster.
Von den Weinreben auf der Rückseite des Hauses zeugt nur noch ein dicker Stumpf, der immer noch aus dem Boden ragt. Die Fassade rund um die Fenster der Wohnung Nummer drei ist neu gefliest – mit Granitplatten. Das Grundstück ist vernachlässigt. Bevor man den Garten sich selbst überließ, hatte jemand alles herausgerissen. All die Arbeit, in einem steinigen Lehmboden ein Gärtchen anzulegen – bei der wir als Kinder unserem Vater geholfen hatten, indem wir eimerweise die großen Steine vom Grundstück weggebracht hatten – alles was gepflegt, in heißen Sommern gewissenhaft gegossen wurde, all das ist weg.
Ich gehe weiter und finde das Haus meiner besten Freundin nicht mehr. Alles ist so vertraut und so fremd. So furchtbar alt und so neu. Tränen stehen mir in den Augen.
Unsere Reisegruppe geht zum Minibus – die Gegend ist zu unspannend, wenn man hier nicht aufgewachsen ist. Da ich bei der Ankunft das Foto unserer Schule in die Chatgruppe der ehemaligen Klasse gepostet habe, sehe ich auf einmal ein bekanntes Gesicht, das unsere Gruppe beobachtet. Im großen Mann erkenne ich kaum den kleinen quirligen Klassenkameraden, der er mal war. Er wohnt noch in der Nähe und ist einfach gekommen, in der Hoffnung uns zu sehen, da ich auf keine Chatnachrichten geantwortet hatte, stellt sich später heraus. Meine Tochter und ich lassen die Reisegruppe abfahren und bleiben da. Mein Klassenkamerad und ich umarmen uns. Später wird meine Tochter fragen, ob wir gute Freunde waren – nein waren wir nicht. Die gemeinsamen Erinnerungen machen aus uns trotzdem auf eine besondere Art zu Menschen, die sich ganz nahe stehen.
Wir laufen zusammen durch das Viertel, zum ehemaligen „Haus der Kultur“, wo ich früher viel Zeit verbracht hatte. Ohne ihn hätte ich den Weg nicht gefunden. Alles kleiner, zugebaut – nicht wiederzuerkennen. Während wir ein Eis essen, ruft seine Ehefrau an und lädt uns zum Abendessen ein. Wir sind mit der Reisegruppe verabredet. – Dann wenigstens auf eine Tasse Tee. Nun gut.
Wir setzen uns an den Tisch in einer gemütlichen Essküche. Wie von Zauberhand, kommen Tee, Kaffee, was Süßes und als das alles steht, nach und nach frisches Gemüse, gebratene Hühnerschenkel und Kartoffeln aus dem Kühlschrank aufgewärmt auf den Tisch. Mir fällt auf, dass wir nicht mal ein Mitbringsel haben, es ist mir unangenehm. Als wir nach einiger Zeit starten, um zu unserer Reisegruppe aufzuschließen, wird ein Taxi gerufen und gleich bezahlt. Wir bekommen Geschenke mit. Das ist selbstverständlich – so ist hier die Gastfreundschaft. Wir werden uns noch nächste Woche sehen, da haben wir ein Treffen in einer größeren Runde ausgemacht.
Das Taxi fährt los. Mich überwältigen die Eindrücke und Gefühle. Es ist schon so lange her, dass wir hier gelebt hatten. Alles so bekannt und doch so fremd. So liebenswerte Menschen, hätten wir noch Kontakt, wenn wir hier leben würden? Ich weiß es nicht.
Die Tränen kann ich nun gar nicht mehr aufhalten. Meine Tochter sagt: „Willst du mir sagen, was los ist?“ Ich kann es nicht, ich finde nicht die richtigen Worte.