Ist „Zuhause“ ein Ort?

Ein Himbeerzweig mit reifen und nicht ganz reifen Beeren

Die Rubrik „Zuhause meiner Kindheit“ ist als Vorbereitung auf die Reise in die Stadt, in der ich meine Kindheit verbrachte, entstanden. Sie sollte also einige Orte liefern, die ich nach vielen Jahren gern besuchen möchte. Beim Durchblättern der bisherigen Einträge sehe ich, dass die Orte selbst darin keine herausragende Bedeutung spielen. Es sind Wetter, Geschmack und Menschen, die mir ins Gedächtnis kommen.

Die langen Sommerferien – jährlich ganze drei Monate – verbrachte ich bei meinen Großeltern. Die Eltern meines Vaters hatten einen Garten außerhalb der Stadt, in dem sie im Sommer lebten. Es war schön dort und trotzdem sind es weniger die einzelnen Orte, sondern eher die einzelne Erlebnisse, an die ich mich erinnere: es gab Reihen von Himbeerbüschen in der hinteren Ecke des Gartens. Wir durften die Himbeeren essen, aber Oma bestand darauf, dass wir sie pflückten und am großen Tisch vor dem Haus aus der Schüssel aßen. Nicht so sehr, weil sie gewaschen werden mussten – ich erinnere mich, dass das Wasser an den Himbeeren abperlte, wenn man sie abspülte – sondern weil sie eine Idee davon haben wollte, wie groß die Ernte war. Das hielt uns freilich nicht davon ab, im Vorbeilaufen doch einige Beeren heimlich direkt in den Mund zu schieben.

Hinter dem Garten ging ein Hang hinab. Die Wiese schimmerte blau im Sommer, weil sie voll mit Kornblumen war. Die waren wunderbar, um Kränze daraus zu flechten. Die Blumen waren robust und hielten lange im Strauß oder im Kranz. Den Garten, das Häuschen und den Hügel zu sehen, wäre schön – hoffentlich finden wir all das.

Gern würde ich das Viertel, in dem wir seit meiner Schulzeit lebten und meine Schule sehen, das „Haus der Kultur“ in dem zwei Mal pro Woche Tanzstunde war. In der Tanzgruppe „Rhythmen des Planeten“ übte ich zwei Mal pro Woche verschiedenste Tänze, um an Wochenenden zu verschiedenen Gelegenheiten aufzutreten. Kultur war vom Staat gefördert und durch die – damals staatliche – Unternehmen unterstützt. Unsere Einrichtung gehörte zum Traktorenwerk, das direkt neben unserem Viertel angesiedelt war. Das Traktorenwerk ist im zweiten Weltkrieg als Panzer produzierendes, strategisch wichtiges Werk aus der russischen Föderation nach Mittelasien verlagert worden, damit es von den Kriegshandlungen beschützt werden konnte. Zu Zeiten meiner Kindheit gab es samstags verpflichtende und unentgeltliche Aufräumarbeiten in den Schulen, in den Werken und in den Büros – dies hieß „Subbotnik“es. Wir waren als Tanzgruppe dafür da, die Stimmung dieser so genannten freiwilligen Arbeiten zu heben und als zum Werk zugehörend, hatten wir meist unter freiem Himmel mehrere Auftritte auf dem Werksgelände, zu absolvieren. Der schöne Nebeneffekt –wir waren dafür von den „freiwilligen“ Arbeiten in den Schulen befreit. Wir hatten Spaß beim Tanzen und ernteten Applaus anstatt die Schule zu putzen und das Schulgelände in Ordnung zu bringen – doppelter Bonus.

Die Erlebnisse gehören alle zum Zuhause meiner Kindheit, die Orte sind zwangsläufig der Rahmen dafür. Dennoch erinnere ich mich eher an die Kleiderständer mit den Tanzkleidern, die wir so arrangierten, dass ein Bereich zum unbeobachteten Umziehen entstand, als an die einzelnen Orte auf dem Werksgelände.

In einer Familie mit einer bewegten Geschichte, die vor langer Zeit aus Deutschland nach Kaukasus übergesiedelt war. Seit meinen Großeltern hatte jede Generation einen lebensverändernden, nicht immer freiwilligen Umzug erlebt – ist es vermutlich selbstverständlich, dass die Heimat nicht an Orte oder Sachen festgemacht wird.

Als ich mit meinen Kindern nach Karlsruhe in eine für sie neue Stadt umgezogen bin, fragte ich sie, ob und wann sie wohl das neue Umfeld als ihr Zuhause ansehen würden. Die Antwort: „Unser Zuhause ist da, wo du bist.“ hat mich berührt und überrascht. Beim Nachsinnen musste ich feststellen, auch für mich ist das Zuhause nicht an Straßen, Häusern oder Wänden festzumachen, sondern an Menschen um mich herum.

Vielleicht ist das einer der Gründe, wieso es 35 Jahre lange nicht wichtig war, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren.

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